In den
sechziger Jahren revolutionierte ein neues, tönendes Medium die Kinderzimmer:
die Hörspielplatte. Heute genießen Serien wie "Hui Buh" oder
"Fünf Freunde" Kultstatus, während sich Neuproduktionen aus dem
Horror- und Krimi-Genre einen festen Platz in der Popkultur erobern und sich
vom reinen Audio- zum Multimedia-Spektakel wandeln.
Es gibt Dinge
mit denen man aufwächst, die schmeißt man einfach nicht weg: Dazu gehören neben
dem Kuschelteddy aus dem Gitterbett in ganz besonderem Maße die ersten
Abenteuer- und Märchenschallplatten und -cassetten. Wehe den Eltern, die diese
geliebten Heiligtümer ihrer Sprösslinge eines Tages dennoch arglos entsorgen!
Ein Familiendrama von unüberschaubaren Dimensionen wäre unvermeidlich. Bis vor
kurzem blieb als letzte Hoffnung zur Wiederbeschaffung nur noch der Gang zum
Flohmarkt. Heutzutage tut es manchmal schon wieder der Blick in den
CD-Backkatalog diverser Plattenfirmen.
Lübbe-Held
John Sinclair: Reifere Zielgruppe erwünscht
"Pumuckl"
(Karussell) und "Perry Clifton" (Maritim), "Hui Buh"
(Europa) oder "Räuber Hotzenplotz" (Karussell) stehen längst wieder
in den Regalen von Kaufhäusern und Plattenläden. In den vergangenen zehn Jahren
haben die klassischen Hörspiele der sechziger bis achtziger Jahre - nach einem
in den Achtzigern einsetzenden Rückgang der Auflagenzahlen - eine erstaunliche
Renaissance erlebt. Der Boom äußerte sich zunächst darin, dass eine wachsende
Zahl von Sammlern zwischen 18 und 38 Jahren ihre "alte Liebe" neu
entdeckte und bereit war, für gebrauchte Hörspiel-LPs und MCs mehr als das zehnfache
des früheren Ladenpreises zu bezahlen. Während man
früher ungern zugab, noch immer zum Einschlafen Heikedine Körtings "Die
Hexe Schrumpeldei" oder Gerd von Hasslers "Kasperle ist wieder da:
Wer kann den besten Pudding kochen?" (beide Europa) zu hören,
solidarisiert sich die riesige Fan-Gemeinde anno 2003 mehr denn je im Internet.
Besonders amüsant ist hierbei die "hoerspielhoelle.de," in der
"bekloppte Hörspiele" (so die gleichnamige Rubrik) derartig
überschwänglich verrissen werden, dass man am liebsten sofort losrennen möchte,
um sie sich zu Gemüte bzw. zu Gehör zu führen. Darauf reagierten nun endlich
auch die Plattenfirmen nicht nur mit Neu-, sondern auch mit
Wiederveröffentlichungen von Kinder-, Jugend- und Erwachsenenhörspielen.
Krimi-Klassiker
"Die ???": Ewiger Bestseller
Im
literarischen Bereich boomt der Erfolg von Hörbüchern seit Jahren - von
"Oskar Werner liest Rilke" (BMG) bis hin zu "Heike Makatsch
liest Mary Poppins" (Kein & Aber). Audiobook-Marktführer im Segment
trivialer Unterhaltung ist nach wie vor das in Quickborn bei Hamburg ansässige
Europa-Label der ehemals unabhängigen Firma Miller International. Seit Jahren
ist man ein Teil der Bertelsmann-Tochter BMG-Ariola und setzte nach einem
anfangs breit gefächerten Programm sehr lange fast ausschließlich auf die
Fortsetzungen der immens erfolgreichen Kinder-Detektivserien "TKKG"
und "Die ???" (allein die erste Folge "Der Superpapagei"
aus dem Jahr 1979 verkaufte sich bis heute über 500.000-mal). Erst 1999
besann man sich auf sein kultträchtiges Repertoire. "Die Rückkehr der
Europa-Klassiker" begann mit der Science-Fiction-Serie "Perry
Rhodan" und wurde mit der neonfarbenen "Gruselserie" (von H.G.
Francis) fortgeführt. Fans der ersten Stunde waren allerdings frustriert:
Während die Tonspuren namhafter Sprecher wie Horst Frank oder Günther Ungeheuer
unangetastet blieben, wurden auf Grund eines Rechtsstreites in Millionenhöhe
die beliebten Titelmelodien des Komponisten Carsten Bohn durch neue Stücke
ersetzt. Neben der Kinderreihe "Hui Buh" kam es inzwischen auch zur
Wiedergeburt nicht immer jugendfreier Krimi- und Horrorserien wie "Edgar
Wallace" oder "Macabros" von Dan Shocker. Ende Januar erschienen
zusätzlich zwei neue Folgen des Geister-Agenten "Larry Brent" -
produziert im Jahre 2002 mit den Originalsprechern aus den achtziger Jahren.
Sprecher-Legende
Halver: "Nichttoter" mit großen Plänen
Die
Entstehungsgeschichte von Europa ist so abenteuerlich wie seine akustischen
Spannungsgeschichten. Der amerikanische Industrielle Dave Miller war zu Beginn
seiner Bilderbuchkarriere 1961 auf die Idee gekommen, in Deutschland Musik für
amerikanische Warenhäuser zu produzieren. Die Zielgruppe seiner Firma Miller
International bildeten ausgewanderte Europäer. Paradoxerweise wurde der
eigentliche Boom jedoch in Deutschland ausgelöst, wo sich Miller rasch zum
"Pionier der preiswerten Langspielplatte" entwickelte. Mit fünf Mark
pro Vinylscheibe konnte man das Preisgefüge der großen Plattenfirmen schnell
erschüttern. Zuerst wurde überwiegend Musik mit dem Mammut-Orchester "101
Strings" produziert, bis dann 1965 die erste Kinderplatte "Der
Struwwelpeter" erschien. Die Aufnahmen fanden im Garten der im letzten
Jahr verstorbenen Erzähler-Legende Hans Paetsch statt - um ihn herum befanden
sich die Kinder der Nachbarschaft. Europas Erfolgsstory
ist abgesehen von Paetsch untrennbar mit einem zweiten Namen verbunden: Konrad
Halver. Nach dem frühen Tod von Sieglinde Dziallas, die unter dem Pseudonym
Claudius Brac ihre Skripte inszenierte, machte der künstlerische Gesamtleiter
Dr. Andreas Beurmann 1968 den damals erst 24-jährigen Schauspieler und Sprecher
zum Hausregisseur. Der ungekrönte "Märchenprinz der elektronischen
Großmutter", der einen auf der Rückseite des Plattencovers jungenhaft
anlächelte, schuf mit geringem Budget, aber viel Herzblut das Hörprogramm und
adaptierte neben Märchen und Kindergeschichten auch Weltliteratur wie Dumas'
"Der Graf von Monte Christo", Stevensons
"Flaschenteufelchen" oder Poes "Der Untergang des Hauses
Usher". Als Krönung gab er in der Karl-May-Reihe zusammen mit Michael
Poelchau das stimmlich kongeniale Blutsbrüderpaar Winnetou und Old Shatterhand.
Allen Fans bleibt unvergesslich, wie Halver zu den Klängen von Dvoraks 9.
Symphonie in "Winnetou III, 2. Folge" sein Indianerleben mit
folgenden Worten aushauchte: "Charly, ich glaube an den großen weißen
Manitu. Ich bin ein Christ".
Hörspiel-Klassiker
"Hui-Buh": Mit Hans Clarins Stimme zum Millionenseller
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Immer wieder
konnte der neben dem 1990 verstorbenen Berliner Produzenten Kurt Vethake wohl
profilierteste deutsche Kinder- und Jugendhörspielmacher Film-, Theater- und
TV-Größen ins Tonstudio locken, darunter Will Quadflieg, Hellmut Lange,
Wolfgang Kieling, Ingrid Andree und Gisela Trowe. Mit Hans Clarin gab es
allerdings bei der ersten "Hui Buh"-Folge Ärger: "Nach der
Aufnahme wollte sich der misstrauische Star (auch Stimme des
"Pumuckl") auf Grund schlechter Erfahrungen nicht mit dem Hinweis auf
die Überweisung der Gage begnügen und schnappte sich die Kartons mit den
aufgenommenen Bändern", erzählt Halver. "Erst als Europa-Boss
Beurmann mit Bargeld erschien, rückte Clarin das Material wieder heraus."
Zum Glück: "Hui Buh", das "einzig amtlich zugelassene Gespenst
auf Schloß Burgeck", avancierte mit seinen Fortsetzungen zum
Millionenseller. Halver, der
das Europa-Hörspielprogramm mit seinem Partner Peter Folken maßgeblich
mitentwickelte, wurde später in einer Hochglanzbroschüre des Hauses schlicht
weggelassen, vielleicht weil man nachhaltig entäuscht über seinen Fortgang zur
"Wort"-Abteilung der BASF in den siebziger Jahren war. Als Fans
später bei Miller, wo ihn Beurmanns Gattin Heikedine Körting längst ersetzt
hatte, nach ihm fragten, bekamen sie sogar die Auskunft, er sei tot. Halver
hingegen, der mit Charles Regnier und Werner Hinz das erste deutsche
"Dracula"-Hörspiel produzierte, legt größten Wert auf die
Feststellung, er sei ein "Nichttoter", der noch einiges vorhabe. Kürzlich legte
der junge Dortmunder Medienunternehmer Carsten Hermann vom reaktivierten
Maritim-Label, einst Europas größter Konkurrent, Halvers zweite
"Dracula"-Adaption "Jagd der Vampire" neu auf. Für den dort
ebenfalls erschienenen KZ-Thriller "Zeit der Unübertrefflichkeit" des
bayrischen Dichters Wolfsmehl wurde Halver, der nun Ende Februar nach 20-jähriger
Karl-May-Abstinenz in "Satan & Ischariot" wieder mit sanftem,
aber bestimmten Timbre Winnetou sprechen soll, soeben für den in der Branche
hochgeschätzten Hörspiel-Award in den Kategorien "bester Sprecher",
"beste Regie" und "bestes Hörspiel" nominiert.
Science-Ficition
- Held "Commander Perkins": Erstaunliche Renaissance
Den Preis als
beste Hörspiel-Serie wird im März laut Insidereinschätzungen allerdings eine
andere Produktion erhalten: "John Sinclair - Der Anfang", womit
erstmals die Dominanz von Europa-Produktionen durchbrochen scheint. Auch
kommerziell hat der smarte Geisterjäger gewaltig aufgeholt. 650.000 CDs und MCs
der Bastei-eigenen Serie "John Sinclair 2000" sind inzwischen über
den Ladentisch gegangen, darunter "Der Anfang", das mit bislang
50.000 verkauften Einheiten das erste Hörspiel in den deutschen Popmusikcharts
(zehn Wochen platziert, höchste Notierung Rang 36). Sicherlich eine geringe
Zahl gegenüber 270 Millionen verkaufter Heftromane und Taschenbücher der
Vorlage von Trivialautor Jason Dark, die seit 1978 den Markt überschwemmen,
aber immerhin ein Anfang... Die Frage, ob
Sinclair nun den Publikumsrenner "Die ???" killt, stellt sich nicht
von ungefähr. "Ich denke nicht, dass Horror auf längere Sicht den Krimi
verdrängt, sondern lediglich ergänzt", glaubt Marc Sieper, Produktions-
und Vertriebsleiter von Lübbe-Audio, um allerdings selbstbewusst fortzufahren:
"In der Tat haben wir mit Sinclair eine Art Revival losgebrochen. Falls
die etablierten Krimi-Reihen rückläufig sein sollten, denke ich eher, dass dies
etwas mit der Produktion zu tun haben könnte. Wir haben mit WortArt und Oliver
Döring (Buch und Regie) ein sehr junges Team, das keine Altlasten mit sich
herumtragen muss." Eine Anspielung auf die alten Sinclair-Hörspiele des
geheimnisumwitterten Tonstudios Braun, das nie die Namen der Sprecher
abdruckte.
Halver-Hörspiel
"Winnetou": "Charly, ich glaube an den großen
weißen Manitu"
Für Sieper
funktioniert Sinclair nach dem James-Bond-Erfolgsrezept: "1. Das Böse will
die Weltherrschaft an sich reißen. 2. Das Böse und das Gute schleichen auf
einander zu und und um einander herum. 3. Showdown mit bunten Knalleffekten und
Getöse. 4. Das Gute siegt immer". Sieper verweist gern auf die besonderen
Merkmale der neuen Sinclair-Hörspiele: "Im Gegensatz zur Konkurrenz
arbeiten wir viel und gerne mit Synchronsprechern. Wir verwenden Geräusche und
Sounds, die aus Hollywood kommen und Musik, die durchaus auch als Filmmusik
Verwendung findet." Es gibt allerdings nicht wenige Kenner, die den alten
Tonstudio-Braun-Aufnahmen mit ihren stummfilmartigen Kinoorgel-Musiken mehr
Charme zugestehen. Die
Bastei-Audioproduktion wendet sich nicht mehr vorrangig an Jugendliche, sondern
hat mit seinen Geisterjäger-Spektakeln ein reiferes Publikum im Blick: Auf den
Covern ist die Altersangabe "ab 16" angegeben, obwohl alle
Sinclair-Hefte und Hörspiele von der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende
Schriften als unbedenklich freigegeben worden sind. Da sind die
Europa-Hörspiele häufig von anderem Kaliber: Die "Macabros"-Reihe ist
viel expliziter in der Gewaltdarstellung. Und schon Konrad Halvers zweiteilige
"Schatz im Silbersee"-Adaption von 1968 blieb überraschend
unzensiert, was sicherlich zum Faszinosum in unzähligen Kinderzimmern beitrug:
So darf man lauschen, wie dem Tierbändiger Venuti (Rolf Jahncke) von seinem nur
scheinbar zahmen Panther der Kopf abgerissen und "zu Splittern und
Brei" zermalmt wird. Auch der Anführer der bösen "Tramps", der
rote Colonel (Peter Folken), muss seine Missetaten teuer bezahlen: Gnadenlos
werden ihm vom Schatzhüter Häuptling Großer Bär (Curt Timm) erst beide Ohren
abgeschnitten, später endet er schrecklich verstümmelt, "nackt und
verkehrt aufgehangen" am Marterpfahl der Utahs. Michael
Schneider von Universal Music möchte gerne vermeiden, "dass
Horror-Geschichten Kindern Angst und Albträume bereiten." Er kann -
ähnlich wie der Münchener HörVerlag mit "Harry Potter" - auf ein
pädagogisch unbedenkliches Repertoire von Bestsellern der Kinderliteratur
zurückgreifen, um mit scheinbar einfach erzählten, inhaltlich jedoch
tiefergehenden Geschichten von Otfried Preußler ("Krabat"), Michael
Ende ("Momo"), Astrid Lindgren ("Pippi Langstrumpf") oder
Paul Maar ("Eine Woche voller Samstage") nur die bekanntesten zu nennen.
Vor dem
berüchtigten Download der Hörspiele aus dem Internet ist der Branche bisher
nicht allzu bange: "Je älter die Zielgruppe eines Produktes ist, desto
mehr besteht diese Gefahr. Kinder hingegen wollen den Original-Tonträger mit
Original-Cover", sagt Schneider, während "John Sinclair"-Produzent
Sieper sogar einen "Vorteil gegenüber der Popmusik" sieht:
"Unsere Stücke sind mindestens 45 Minuten lang. Dies in der Relation zum
Verkaufspreis von 4.95 Euro für eine MC lässt dann viele lieber zum Original
greifen. Ich bin mir sogar sicher, dass Zuwächse möglich sind, da wir noch
lange nicht alle potenziellen Fans- und Verkaufsstellen erreicht haben." Europas
Antwort lässt nicht lange auf sich warten. Nach dem großen Erfolg der "???
- Masters of Chess"-Tournee im vergangenen Herbst, bei der sich die
Sprecher Oliver Rohrbeck, Jens Wawrczek und Andreas Fröhlich als
Hobby-Detektive Justus Jonas, Peter Shaw und Bob Andrews auf der Bühne als
Hörspiel-Stars zum Anfassen entpuppten, hat man mit "Europa on Tour"
ein völlig neues Veranstaltungskonzept für Hörspiele entwickelt: "Wir
visualisieren zum ersten Mal ein Hörspiel für Erwachsene", begeistert sich
die Produktmanagerin Hiltrud Fitzen. "Mit Bild-Projektionen,
Lichtstimmungen und Surround-Effekten wird das Hörspiel auf den ganzen Raum
ausgedehnt und erlebbar, als wäre der Zuschauer- und Hörer selbst mitten in der
Handlung." Zum 25jährigen Jubiläum der Krimiserie "Larry Brent"
soll "Das schwarze Palais von Wien" im März eine audiovisuelle
Blutspur durch Deutschland ziehen.
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